Fragestellung

Ob Proseminararbeit, Dissertation oder gross angelegtes Forschungsprojekt: Die Entwicklung einer Fragestellung steht am Anfang jeder wissenschaftlichen Arbeit. Sie wird aus dem bisherigen Forschungsstand und der Quellenlage heraus entwickelt und muss im Laufe des Arbeitsprozesses immer wieder neu angepasst werden.

Eine Forschungsfrage wird auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes und eines geschichtswissenschaftlichen Ansatzes entwickelt und anhand mehrerer zugänglicher Quellen beantwortet. Das Erstellen einer geeigneten Fragestellung nach diesem Schema ist anspruchsvoll und muss im Verlauf des Studiums eingeübt werden. Das Finden von geeigneten Quellen stellt in der Praxis eine besondere Hürde dar.  Die interessanteste Fragestellung nützt nichts, wenn keine entsprechenden Quellen gefunden werden können. Deshalb muss bei der Entwicklung einer Fragestellung früh nach geeigneten Quellen gesucht werden. Oft kann eine spannende Quelle aus den Seminarunterlagen vorliegen. Eine Fragestellung kann auch darin bestehen, Thesen oder Methoden der Forschung an anderem Quellenmaterial zu testen, das noch wenig untersucht oder lokal greifbar ist. In diesem Fall muss sie nicht von Grund auf neu entwickelt werden.

Wesentliche Faktoren zur Entwicklung einer Fragestellung:

Aktueller Forschungsstand und geschichtswissenschaftliche Ansätze

Die Fragestellung wird auf der Grundlage der vorhandenen Forschungsliteratur entwickelt. Welche Erkenntnisse und Debatten zu einem bestimmten Thema liegen vor? Welche Aspekte und Perspektiven sind dabei unbeachtet geblieben oder inwiefern überzeugen bisherige Argumentationen nicht? Historische Forschung lässt sich als Streitgespräch vorstellen: Mit der Fragestellung legen Historikerinnen und Historiker fest, an welche Debatte sie anknüpfen und welchen Beitrag sie zu dieser Debatte leisten möchten.    

Quellenlage

Quellen sind die Grundlage für jede geschichtswissenschaftliche Erkenntnis. An ihnen lässt sich eine konkrete Frage untersuchen. Sie schränken aber auch ein, was überhaupt erforschbar ist. Worüber keine Quellen existieren, darüber kann man auch nicht forschen. Andererseits können auch zu grosse oder unübersichtliche Quellenbestände die Arbeit erschweren.

Beispielhafte Formulierung

Das Entstehen einer Fragestellung auf der Grundlage von Forschungsstand, Quellenlage und wissenschaftlichen Ansätzen zeigt sich an dieser Beispielformulierung:

Bei der Untersuchung des Phänomens XY gilt die Ansicht von XY seit längerer Zeit als Lehrmeinung. In jüngerer Zeit wurde dieser Sachverhalt vor allem von XY bestritten, die den Akzent mehr auf XY setzt. Anhand des Quellenmaterials XY möchte ich mittels des methodischen Ansatzes XY untersuchen, ob die neueren Ansätze zu einer schlüssigeren Erklärung führen als die ältere Lehrmeinung. Ich stütze mich dabei vorwiegend auf folgende Literatur: XY.

Eine Fragestellung wird zumeist in einem zirkulären Arbeitsprozess entwickelt. Eine erste Idee oder die Wahl eines Themas beziehungsweise Forschungsgegenstandes lenken die Recherche in eine Richtung. Nach der Bearbeitung der Einstiegslektüre (häufig Lexika- und Handbuchartikel) und einer ersten Sichtung von möglichen Quellen lässt sich eine erste Fassung der Fragestellung formulieren. Diese beeinflusst die weiteren Recherchen und hilft zu entscheiden, welche Literatur relevant ist und welche nicht. Mit der fortschreitenden Recherche verfeinert sich die Fragestellung nochmals. Literaturrecherche, Literaturbearbeitung, Quellenrecherche und Quellenanalyse stehen dabei mit der Fragestellung im ständigen Austausch. Die Fragestellung lenkt die Recherche, wird aber ihrerseits von den Resultaten der Recherche beeinflusst. Es zeigt sich nämlich oft, dass beim ursprünglichen Formulieren der Fragestellung zentrale Aspekte noch nicht bekannt waren. Auch können die Recherchen ergeben, dass auf bestimmte Fragen aufgrund fehlender Quellen keine Antworten möglich sind. 

Dieser Kreislauf von Fragestellung und Recherche kann endlos betrieben werden, da jede gefundene Antwort neue Fragen aufwirft. Jede Arbeit muss daher auch Grenzen setzen und diese transparent machen, etwa in der Einleitung. Die Grenzen beziehen sich auf das Thema (welche Aspekte können bearbeitet werden, welche bleiben aussen vor?), auf den Untersuchungszeitraum, auf die hinzugezogene Forschungsliteratur und natürlich auch auf die Zeitspanne, die für die Erstellung der Arbeit zur Verfügung steht.

Es kann sich lohnen, die sich bei der Bearbeitung einer Fragestellung abzeichnenden thematischen Stränge schriftlich festzuhalten. Dies kann die Form einer Thesenbildung annehmen, indem Erkenntnisse, Vermutungen und offene Fragen in Form von Thesen formuliert werden, die später einer genaueren Überprüfung unterzogen werden. Dieser Zwischenschritt hilft, den Übergang vom Recherchieren zum Schreiben zu schaffen.

Die Eingrenzung der Forschungsfrage ist von zentraler Bedeutung für das erfolgreiche Schreiben einer Arbeit. Zu weit gefasste Fragestellungen führen dazu, dass man sich in der Literatur und den Quellen verliert. Eine (Pro-)Seminararbeit beschränkt sich auf eine enge Fragestellung und unterscheidet sich von einem Handbuchartikel, der zum Beispiel einen Überblick über die Geschichte Englands im Spätmittelalter und damit vor allem Hintergrundwissen präsentiert. Die Fragestellung kann eigentlich nie zu eng gefasst sein. Sie umfasst in der Regel eine räumliche, zeitliche und sachliche Eingrenzung: Der Untersuchungsgegenstand wird in einer gewissen Zeitspanne und für ein geografisches Gebiet untersucht. Diese Eingrenzung wird oft im (Unter-)Titel der Arbeit aufgeführt.

Beispiele:

- „Die Streikwelle in der Basler Chemieindustrie in der unmittelbaren Nachkriegszeit“

- "Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestanden zwischen den kommunistischen Bewegungen in der Schweiz und in anderen Ländern am Ende des Zweiten Weltkriegs?"

- "Wie ändert sich das Bild einer 'Industriellen Revolution' im Spiegel ländlicher Quellen aus dem deutschsprachigen Raum?"

Eine gute Fragestellung erfüllt mehrere der folgenden Punkte:

  • Sie interessiert die Autorin bzw. den Autor.
  • Sie ist relevant in Bezug auf den Forschungsgegenstand.
  • Sie zielt darauf ab, bisherige Forschungsergebnisse zu differenzieren oder falsifizieren ("bisherige Studien argumentieren…, hingegen..."), einen Zusammenhang zwischen bisher unverbundenen Themen oder Forschungsdebatten herzustellen oder eine Lücke in der bisherigen Forschung zu schliessen“
  • Sie ermöglicht eine Argumentation bzw. die Diskussion einer Aussage.
  • Sie ermöglicht eine Schlussfolgerung.
  • Sie hat die Form einer Frage oder einer Behauptung.
  • Sie besteht aus einer Hauptfrage (und Teilfragen).
  • Sie ist präzise formuliert.
  • Sie lässt sich möglichst kurz auf den Punkt bringen (rund 10 Zeilen oder weniger).
  • Sie eröffnet weiterführende Anschlüsse, Zusammenhänge und Anknüpfungspunkte.